Klimaty Łagowskie (Deutsch)
14 November 2014
Die Reformation in Polen mit dem Beitrag der Familie Schlichting und ihre Bedeutung für die polnische Kultur im mittleren Oderland
Im ausgehenden Mittelalter haben sich verschiedene Adelsfamilien aus den Nachbarländern in Großpolen niedergelassen: hauptsächlich aus Schlesien, der Lausitz und Pommern. In ihrer Mehrheit waren sie polnischen Ursprungs, aber durch die Zeitumstände teilweise wieder eingedeutscht. Diese Familien wurden in der polnischen Umgebung im Eilschritt nochmals polonisiert. Im XVI und XVII Jahrhundert war die Blütezeit des Polentums dieser Familien.
Die Familie von Schlichting, die im westlichen und östlichen Teil der Posener Woiwodschaft ansässig war, war Mitglied des polnischen Adels, der sich im XIV Jahrhundert aus der Ritterschaft in den neuen Stand des Adels gewandelt hatte.
Von den Wurzeln des Ritterstandes der Familie von Schlichting zeugen besonders die Urkunden der Brüder Albert, Konrad und Otto unter dem Geschlechtsnamen de Schlichtinge.
Aus den Quellen wissen wir, dass diese Ritter im Lebuser Land gewohnt haben, das heißt, sie wohnten im polnisch-märkischen Grenzland und besaßen das Dorf Jehser (Jeziorany) in der Umgebung von Schwiebus (Świebodzin) Der Stammvater dieser Linie war Kaspar v. Schlichting und siedelte zuerst ab 1412 auf Rietschuetz (Rzeczyca) bei Schwiebus (Świebodzin).
Auf Grund der Untersuchungen von Wladimir Dworzaczek „Die Schlichtings in Polen: Posen 1938.” folgt, dass der polnische König Sigismund, dem Johann Schlichting bereits 1507 die ersten Privilegien für die Ansiedlung in der Posener Umgebung gab.
Ein Teil der adeligen Szlachta, besonders in Kleinpolen und Pommern, stellte den polnischen Adel der Familie von Schlichting in Frage. Darum haben Ambrosius und Philipp von Schlichting die Urkunde vom König Sigismund August 1567 erhalten, die von der Wiederherstellung des adeligen Namens ausführlich berichtet, und das bedeutet, dass das keine Nobilitation war, sondern die offizielle Betätigung alten Adels, der in Polen in dieser Form anerkannt war. In dieser Urkunde ist die eingehende Beschreibung des Wappens erhalten, welches die Schlichting gebrauchten.
Ich werde hier nicht alle Zweige des Geschlechtes von Schlichting besprechen, sondern will Sie besonders an die Linie erinnern, die das Städtchen Schlichtyngową gebaut hat.
Der Gründer war Johann Schlichting, der Landrichter der Königsstadt Fraustadt (Wschowa). Er gehörte neben Jonas Schlichting zu den hervorragendsten Vertretern dieses Geschlechtes. Seine öffentliche Laufbahn hat mit dem Richterstuhl der Burg Surrogat - 1625 begonnnen, als Amtsnachfolger seines Schwiegervaters Georg Kurzbach – von Zawada. Schlichtings heirateten gewöhnlich Polinnen, um ihre polnischen Wurzeln zu bezeichnen.
Gegen Ende der Herrschaft von Sigismund III. Vasa, 1632 hat Johann Schlichting die Ernennung als Landrichter erhalten, überdies war er 26 Mal zum Abgeordneten für den polnischen Reichstag/Sejm gewaehlt. Sieben Mal war er Mitglied des obersten polnischen Reichsgerichtes, des Tribunals. Und er war Generaladministator der königlichen Zolleinnahmen zu Fraustadt.
Er partizipierte an dem Konvokation - Sejm, war Abgeordneter auf den Krönungssejm von Ladislaus IV und der Deputierten auf dem Schatzgerichtshof in Radom. Unter dem Sejm 1638 ist er in die Partei des Schlichtungsausschusses gegangen, denn er sollte ziemlich ernste Streite großpolnischer Woiwodschaften mit Schlesien, Brandenburg und Pommern beruhigen.
Unter den Zwischenregierungen nach dem Tod von Ladislaus IV wurde er zum Abgeordneten der Posener Woiwodschaft auf dem Konvokation - Sejm dazu bestimmt, die Wirtschaften in den Gruben von Wieliczka und Bochnia zu prüfen. Der Sejm hat ihn, etwa um 1645, zum Ausschuss entsandt, die Münzangelegenheiten und Münzen in Krakau, Posen, Wilno und Bromberg zu regeln. Er hat gleichfalls die Wahl König Johann Kazimierz unterschrieben. Der Höhepunkt des königlichen Vertrauens zu Johann Schlichting war seine Erwählung im April 1655 zum Marschall des Generalprovinzial Landtages großpolnischer Woiwodschaften in Środa Wlkp.
Hier sollte man auch auf die große Vertrautheitkeit der vereinigten Familien von Schlichting mit der fürstlichen Magnatenfamilie Leszczyński verweisen. Nach der Familientradition reisten junge Schlichting`s und Leszczyńscy’s zusammen an den englischen Hof der Koenigin Elisabeth. Beide Vertreter dieser Familien hielten gegenseitig ihre Kinder zur Taufe.
Das Erbe Schlichting`s nach Johann Georg, dessen vier Kinder leider vor ihm starben, präsentierte sich nicht blühend. Der Richter war mit bedeutenden Verpflichtungen durch die Sache der Familie Leszczyński belastet. Schlichtingowa ist durch die Schweden während der Wasserflut geplündert zurück geblieben. Potocki`s Dragoner harkten auch die Umgegend von Schlichtingowa durch. Wir erfahren dieses auf Grund der Urkunde der Klage, die der Magistrat gegen Missbräuche der Potocki`s Dragoner gerichtet hat. Samuel Schlichting hat das ruinierte Städtchen wieder aufgebaut und überdies seinen Hof in Górczyna weiter entwickelt. Ankömmlinge und Kaufleute, die auf dem Gut von Schlichting ankamen, nannten sich nicht Arianer sondern Lutheraner. Schlichting`s hatten sich nie anders, als polnische Brüder genannt.
Derentwegen war die Erhaltung polnischer Sitten in den Familien wichtig, wo man die Gäste aufnahm und freundlich bewirtete, mit großen Gläsern an Bier und Schnaps und man deckte den Tisch dreifach mit Schüsseln und Speisen.
Der Eigentümer des Städtchens ging in polnischer Kleidung und im Hause von Samuel Schlichting redete man nur in polnischer Sprache. Samuel Schlichting, unter der Regierung von Sigismund III Vasa geboren, starb 1705 Er hatte sechs Mal Königswahlen und sechs Könige mit gewählt, denn die Familie besaß die erblichen Indigenate. Das waren die Rechte, den polnischen Koenig zu wählen.
Hier wurden nur manche Fragmente vom Leben der Schlichting`s gewählt, um den Nachfahren zu beweisen, dass auch sie polnische Wurzeln haben und das heißt, dass auch sie mit dem politischem Leben des damaligen polnischen Staates verbunden waren.
Eine große Rolle in diesem gemeinschaftlich-religiösen Prozess haben Urahnen der Baronin Sigrun von Schlichting gespielt. Sie gehörten zu dieser Familie polnischer Brüder, welche wir oft Arianer nennen.
Polnische Brüder ist eine Glaubensbewegung, die 1562-1565 von der Gruppe polnisch Kalumini/der polnischen Gegenreformation der Kirche / abgesondert wurde, da sie den beharrlichsten Teil der Reformation in Polen bildete. Sie hatten beim König Wladislaw IV. Vasa schon während des in Europa wütenden 30jaehrigen Krieges die Zustimmung erreicht, Religionsflüchtlinge aus dem damaligen Habsburger Reich aufnehmen, und in Polen ansiedeln zu dürfen.
Aus diesem Anlass und zum Schutz dieser Religionsfluechtlinge wurde auch das Städtchen Schlichtingsheim/Szlichtyngowa 1644 gegründet und erbaut. Durch das religiöse Asyl, welches der polnische Koenig damals den durch die Kath. Kirche Verfolgten jenseits der Grenzen gewährte, entstand die Hochachtung vor der freiheitlichen und duldsamen polnischen Gesinnung. Viele dieser zu uns geflüchteten tüchtigen Handwerker, Kaufleute und Landwirte schufen eine kulturelle Hochblüte während dieser Zeit in unserer Region, die international mit der Geistesfreiheit des antiken Athens verglichen wurde und große Anerkennung fand.
Im XVII Jahrhundert übernahm die arianische Bewegung wohlhabende Stadtbewohner, den mittleren Adel und sogar Magnaten. Zu dem Mekka polnischer Brüder gehörte Pińczów, und nachher Raków.
1602 legten sie die Rakowska Hochschule an, in welcher hervorragende wissenschaftliche Kräfte lehrten, und legten die Buchdruckereien an, die aus Raków den wissenschaftlichen und Verlags-Mittelpunkt in Europa machten.
Die Bewegung der polnischen Brüder hat außer Denkern auch viele Schriftsteller und Dichter hervor gebracht, die bedeutende Werke herausgaben wie Wacław Potocki, oder Zbigniew Morsztyn.
Die Bewegung der polnischer Brüder trug wesentlich zur polnischen Sprachentwicklung, dem Schulwesen und der polnischen Kultur bei.
Arianische Schulen standen auf bergehohem Niveau und hatten z.B. in Rakow um 1635 bereits etwa tausend Schüler und Studenten.
Im XVII. Jahrhundert bildete diese Bewegung die hauptsächlichste Verbindung mit der geistigen Bewegung des damaligen Europas.
Ein anderer Mittelpunkt polnischer Brüder war Großpolen. Obgleich die Geschichte der böhmischen Brüder mehr bekannt gemacht wurde, da auch sie hier angekommen sind, vertrieben aus dem damaligen 10 Boehmen, und in Großpolen angenommen wurden. Die Bewegung böhmischer Brüder hatte ihr Mekka in Lissa (Leszno), wo ihre angesehene Hochschule war und ihr Lehrer und Erzieher der Philosoph, und Pädagoge Johann Komeński weit berühmt wurde. Noch heute kann man auf dem nach ihm benannten Platz sein Bronzedenkmal und die daneben stehende Arianerkirche bewundern.
Ich denke, dass sich die Zusammenarbeit mit den polnischen Brüdern gut gestalten musste, denn zu ihrer Gesellschaft in Großpolen rechnen wir angesehene Familien wie die Opaliński, Górki, oder Leszczyński.
Der ausdauerndste und größte Vertreter der polnischen Brüder war Johann Schlichting der Gründer von Schlichtynowa und sein Vetter Jonas Schlichting, der Schriftsteller und Ideologe der polnischen Brüder.
Er verkündete den religiösen Rationalismus, die religiöse Duldsamkeit. Er huldigte der Idee der Trennung der Kirche vom Staat. Die Baronin versteht die Realitaeten des heutigen Europa vortrefflich und weiß, dass wir mit der Zeit eine europäische Großfamilie werden.
Das Schloß Rothenhorn in Heyersdorf (Jędrzychowice) will sie als Begegnungsstätte des Kulturaustausches und der Wissenschaft bestimmen. Dieser Ort kann ein wichtiges Zentrum an beiden Ufern der Oder und der wendischen Neiße werden.
Mit eigenen und ihrer Familie Kraeften, hat sie dort eine Hotelbasis, den Konferenzsaal und eine opulente Bibliothek geschaffen, die beim Quellenstudium der Geschichte Schlichtingsheim und Fraustadt und der regionalen Umgebung behilflich sein wird.
In der Bibliothek können Studenten und sogar Doktoranten Materialien finden, denn es gibt wenig Veröffentlichungen zu diesem Thema. Empfehlenswert wäre das Interesse der Grünberger Uni, weil dort die Abteilung für Geschichte ist.
Die regionale Geschichte ist wenig bekannt in der Schuljugend und Studentenschaft und das ist doch „Heimat”. Darum waere es empfehlenswert geschichtliche Ausflüge zu organisieren z.B.: zum Thema „Schlichtingsheim und die Reformation in Polen.” Die Frau Baronin kann diesbezüglich eine vollkommene Vermittlerin sein und nicht nur für vergangene Geschichte, sondern auch für die lebendige Gegenwart.
Somit kann ihr Schloß Rothenhorn auch als sehr wichtiger Anziehungspunkt touristischen Routen durch das Lebuser Land dienen, wo man sich nicht nur aufhalten kann, sondern auch ausruhen, studieren und etwas von der Eigentümerin erfahren.
Veröffentlichungen zum Thema dieser Familie, nicht nur ihr Einsatz während der Reformation, sondern insgesamt für die polnische und deutsche Kultur, würden Touristen aus Polen und Deutschland und vielleicht auch anderer Länder zum Besuch dieser Region anregen.
Das Eigentum der Baronin Sigrun von Schlichting könnte deshalb eins von den Zentren der touristischen Förderung der Lebuser Woiwodschaft werden.
Empfehlenswert wäre größeres Interesse für die Baronin vom Marschall-, Bezirks-, und Gemeindeamt von Szlichtyngowa.
(Übersetzung: Renata Bartman , Bolesław Bernaczek)
Bolesław Bernaczyk – PrzewodniczącyTowarzystwa Społeczno – Kulturalnego Mniejszości Niemieckiej w Zielonej Górze.
Czyli
Sozial – Kulturelle Gesellschaft der Deutschen Minderheit in Grünberg
6 October 2014
Erinnerungen an das Forstamt Lagow von Hildegard Klose! Aus dem Heimatbrief 16/1980.
Besucher, die heute auf dem Burgturm von Lagow stehen, sind noch immer beeindruckt von dem herrlichen Ausblick, der sich ihnen hier bietet und dazu beigetragen hat, das Lagow mit zu den bevorzugten Touristik-Gebieten gehört: Im Süden der Lagower-See mit einem Kiefernwaldgebiet, aus dem der Spiegelberg, (Auch hoher Spiegel genannt) 178 m, hervorragt. Im Norden der Tschetschsee, hinter dem sich viele Kuppen erheben, die vornehmlich mit Buchen bestanden sind und zu den Namen Buchwald geführt haben, die Buchwaldhöhe, 227m, gehört zu den höchsten Erhebungen der Mark Brandenburg und liegt an dem Landweg Neu-Lagow bis Lange-Wiese- Fischerhütte. Dieses Waldgebiet begann bei Engelpful an der Straße Schermeisel-Langepful und zog sich 20 Kilometer lang bei etwa 6 km Breite in südlicher Richtung über Lagow, Grunow, Spiegelberg, Koritten bis an die Grenze des Kreises Krossen. Es gehörte zum preußischem Staate und wurde als Forst Lagow von dem Forstamt in Lagow verwaltet, das es in zwei Forstverwaltungsbezirke aufteilte. Buchwald im Norden und Kienheide im Süden. Auf ihr gediehen Kiefern, die wegen ihres hohen Harzgehaltes viel Kienreiches Holz hatten, das nun sorgfältig ausgesondert und zu Kienspänen gespaltet wurde. Mit ihnen wurde das Feuer in Ofen und Herden entfacht, die Kiefern trugen auch keine Kiefernzapfen, sondern Kienäppel.
Die Forstmeisterei, wie das Forstamt auch genannt wird, befand sich in Lagow in der Mitte des Ortes, war in seiner baulichen Gestalt der Landschaft angepasst und bot immer einen soliden, aber gepflegten Anblick. Leiter des Forstamtes war Forstmeister Bütow, dem Forstmeister Hermann folgte. Zum Bezirk Buchwald gehörte die Oberförsterei Buchspring in der Nähe der Buchmühle: das kleine Fließ, das diese antrieb, gab ihr den Namen. Verwaltet wurde sie von Oberförster Hauk, der von den Russen erschossen wurde. Benachbart war die Revierforsterei Tempel an der stillen Landstraße von Langenpfül nach Großkirschbaum. Geführt wurde sie von Revierförster Eberhard Lose. Dann war noch die Revierforsterei Bechensee, nahe am Bechensee, aber näher der Chaussee Schermeisel-LangenpfuL wo Revierförster Hubert Winkler seines Amtes waltete. Nach 1945 wurde die Försterei Pottaschhütte aufgehoben, die zwischen Buchspring und Tempel lag.
An der Stelle wo sie stand, wurde in früheren Zeiten Pottasche erzeugt. In der Kienheide gab es die Revierförsterei Grunow, die mit Revierförster Erich Karbel besetzt war. Sie lag am Ende des Lagower Sees am Lagower Fließ. An der Chaussee Sternberg-Spiegelberg war die Försterei Dickte mit Revierförster Sommer, dann die Försterei Koritten mit Revierförster Feuerkauf. Die letzte war Teufelsvorwerk mit Revierförsterei Grossmann.
Hildegard Klose!
3 October 2014
Die letzten 5 Monate in Lagow. Vom 29. Januar bis 24. Juni 1945 Der unselige Krieg geht seinem Ende entgegen.
Ein Bericht von Christa Weidlich, geboren 1932 in Lagow (gekürzte Fassung)
Ende Januar 1945 drang die Rote Armee in Lagow ein. Der Einmarsch verlief ohne Widerstand. Trotzdem wurden einige Häuser in Brand geschossen. Die ersten Panzer kamen. Die Panzersoldaten kontrollierten und suchten in den Häusern nach deutschem Militär. Deutsche Soldaten wurden sofort erschossen. Auch Zivilpersonen der Häuser, in denen sich die deutschen Soldaten versteckt hatten. Denn in vielen Privathäusern wurden gegen Ende des Krieges verwundete deutsche Soldaten untergebracht.
Wir wohnten damals auf der Tiergartenhöhe. Unser Haus stand dicht an der Straße. Panzer und Lastwagen fuhren durch Lagow.
Wir versteckten uns zuerst im Keller unseres Hauses. Später schlössen wir uns mit anderen Familien zusammen. Unser Vater war noch bei uns. Wir lagerten in einem Raum auf Strohsäcken und Matratzen. Die 20 älteren Mädchen wurden zwischen den jüngeren Kindern versteckt, um sie vor dem Zugriff der russischen Soldaten zu schützen. Nachts kamen dann auch schon die ersten Soldaten und holten sich, was sie brauchten. Widerstand durfte sich niemand erlauben, es wurde sofort geschossen. Niemand traute sich nach draußen.
Am nächsten Tag mussten alle Bewohner der Tiergartenhöhe runter in die Stadt, weil Tieffliegerbeschuss drohte. Wir kamen zusammen mit einigen weiteren Familien in der Bäckerei Käthe unter. Das Bäckerehepaar nahm sich das Leben. Wir flohen in den Kindergarten.
Am 3. Februar trieben die russischen Soldaten alle Männer zusammen und fuhren mit ihnen fort. Wir sahen unseren Vater nie wieder.
Wir sollten unsere Häuser binnen einer halben Stunde verlassen und uns nur mit dem, was man tragen konnte, auf dem Sammelplatz an der Spiegelberger Chaussee einfinden. Es brach eine große Panik unter der deutschen Bevölkerung aus. Mutter musste für ihre neun Kinder sorgen - das jüngste ein Jahr und acht Monate, das älteste sechzehn Jahre alt - Der stabile Handwagen, den unser Vater noch bauen ließ und von dem er sagte, dass wir damit bis Potsdam laufen könnten, ohne zu ahnen, dass sich diese Aussage bewahrheiten würde, wurde mit dem Wichtigsten beladen. Mein Bruder Werner dachte noch an die Wagenschmiere und das Werkzeug. Die Kleinsten setzten wir in ihre Kinderwagen. Ich hatte die Verantwortung für meine jüngste Schwester, meine Schwester Martha, damals vierzehn Jahre alt, schob die dreijährige Erika in ihrem Sportwagen.
Immer mehr Menschen sammelten sich an. Sie weinten und waren verzweifelt. Alte und Kranke mussten zurück bleiben. Es dauerte Stunden, bis sich der lange Treck in Bewegung setzte. Vier oder fünf polnische Milizionäre führten den Treck. Sie wollten die Menschen vor Überfällen schützen, was aber oft nicht gelang. Tagelang liefen wir in Richtung Frankfurt/Oder. Auf den Straßen herrschte ein wildes Durcheinander. An den Straßenrändern lagen viele Gegenstände, tote Pferde, zerschossene Autos und Militärfahrzeuge. Wir sahen auch tote Menschen. Ich weiß nicht mehr wie lange es dauerte, bis wir zur Oder kamen. Wir hatten bis dahin oft unter freiem Himmel im Wald, in leeren Häusern und Ställen übernachten müssen. Es ist wirklich ein Wunder, dass von uns keiner verloren ging. Unser Schutzengel hat uns nicht verlassen. Unsere Mutter hat Großes geleistet und Gott stand ihr zur Seite. Die polnischen Milizionäre brachten den langen Treck noch über die Oder, danach überließen sie uns unserem Schicksal.
Am 19. Juli, dem Geburtstag unseres Vaters, fanden wir endlich in einem kleinen Dorf bei Potsdam eine neue Heimat und können doch die alte Heimat nicht vergessen. Nach einigen Tagen hatte unsere Mutter ausgekundschaftet, dass die Häuser auf der Tiergartenhöhe leer standen. Wir kehrten also zurück in unser Haus. Es war, wie alle anderen auch, ausgeplündert worden und sah sehr verwüstet aus. Nach und nach wagten sich auch die anderen Bewohner wieder zurück in ihre Häuser. Für unsere Mütter und für die älteren Mädchen begann eine schreckliche Zeit. Sie waren der Willkür und der Gewalt der Soldaten ausgesetzt. Wir Kinder mussten die Vergewaltigungen unserer Mütter und älteren Schwestern mit ansehen.
Zum Glück war noch unser Arzt, Dr. Giesecke, in Lagow. Er richtete in der Försterei eine Krankenstation ein und linderte die Not der Frauen und Mädchen. Manche von ihnen waren so zugerichtet worden, dass sie starben.
Am 8. März wurden alle Mädchen im Alter von 16 bis 21 Jahren von den Sowjetsoldaten eingesammelt und abtransportiert. Man sagte nicht, wohin und für wie lange. Nur wenige kehrten aus der Gefangenschaft zurück.
Wir Kinder stromerten durch den Ort und suchten nach etwas Essbarem, denn der Hunger war groß. Manchmal bekamen wir auch von russischen Soldaten ein Brot geschenkt.
Als dann im Mai der Krieg zu Ende war, bekam Lagow eine russische Verwaltung, die das Leben im Ort kontrollierte. Wir Kinder wurden zu Aufräumarbeiten und anderen Hilfsdiensten herangezogen. Die Frauen erhielten den Befehl, die Felder zu bestellen und in den Gärtnereien und Hausgärten Gemüse anzubauen. Sie mussten für die russischen Soldaten auch kochen.
Die Rote Armee zog dann aus Lagow ab. Nun stand Lagow unter polnischer Verwaltung. Mehr und mehr Polen kamen nach Lagow und richteten sich in den leer stehenden Häusern ein. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen und Gesetzesverletzungen, dennoch hofften wir, dass sich das Leben bald normalisieren würde.
Dann kam der 24. Juni. Das für uns Unvorstellbare sollte geschehen.
Christa Weidlich - Potsdam